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Nachts auf den Straßen von Osu

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Das Erste, was einem an Benjamin auffällt, ist die zehn Zentimeter lange Narbe auf seinem Bauch. „Kommt von ‘ner Messerstecherei, lange Geschichte“ murmelt Benjamin, während er sich eine karierte Dreiviertelhose anzieht. Mehr will er nicht verraten. Schweigend streift er sich ein Poloshirt über, schnürt sich seine Puma-Sneakers und bindet sich ein Armbändchen ums Handgelenk. Es ist fünf Uhr nachmittags. Zeit, sich schick zu machen. Denn schon in einer Stunde wird es dunkel und Benjamins Nachtschicht beginnt. Wie ein kleiner Aufreißer sieht er aus in seinem Ausgehdress, mit dem Kettchen um den Hals und den Bartflusen am Kinn, die er sich zu einem kleinen Streifen getrimmt hat. Irgendwie hatte ich ihn mir verwahrloster vorgestellt – den Jungen, der schon seit vier Jahren auf den Straßen von Osu lebt.

Sieht aus wie ein kleiner Aufreißer: Benjamin (rechts) und Godwin

Osu ist einer der reicheren Stadtteile von Accra. Bricht die Nacht dort ein, dann ist es so als würde das ganze Viertel einen Stoßseufzer von sich geben. Die drückende Hitze weicht, ein lauwarmes Lüftchen weht, alles atmet auf. In der Abenddämmerung sieht man zuerst riesige Schwärme von Fledermäusen zu den Mangofeldern im Norden flattern. Dann strömen die Menschen nach draußen, auf die Straßen. Sie haben Feierabend. Die Pendler wollen nach Hause und die Hungrigen zu den Chop Bars.

Nachtschicht bei Frankie‘s

Für Benjamin und seine Kumpels Michael, Godwin und George hingegen fängt der Tag dann erst richtig an. Sie sind Nachtarbeiter. Wie jeden Abend streifen sie durch die Oxford-Street, der Vergnügungsmeile von Osu. In der Oxford-Street gibt es den total überteuerten Koala-Supermarkt, eine große Bank, bei der man sogar mit VISA-Karte Geld abheben kann, ein paar Fast-Food-Imbisse, Nightclubs, ein Kasino. Meistens lungern die vier Jungs aber vor dem Frankie’s herum, einem vierstöckiges Restaurant, das einem Italiener gehört.

Ausgerüstet mit grüner Leuchtweste und Taschenlampe helfen sie hier fast jeden Abend die Autos der Gäste einzuparken. Von dem Trinkgeld leben sie. Wenn es gut läuft bekommt jeder von ihnen zwischen ein und zwei Ghana Cedi. Wenn es schlecht läuft, verdienen die Jungs auf anderem Wege etwas dazu: Sie reparieren Flip-Flops, betteln um Essen, verticken Gras oder stehlen Portemonnaies.

Heute, am Dienstag ist wenig Betrieb im Frankie’s. Deshalb haben sich die vier freigenommen. Sie wollen an den Strand und mir das Arts Centre zeigen, wo die Rastas Trommeln, Fetischfiguren oder Ketten für die Touristen in Handarbeit herstellen. „Dort stört uns keiner, wenn wir einen rauchen wollen“, sagt Benjamin. Godwin, ein 1,90 Meter große Schlaks, den alle nur taller nennen, nickt: „Yeah Man!“

Es ist ein einstündiger Fußmarsch bis zum Arts Centre. Für die Jungs kein Problem. Sie sind es gewohnt immer unterwegs zu sein. Zwischendrin laufen sie um die Wette, machen Liegestütze, rauchen eine oder spielen Fußball mit einer faulen Orange. George und Benjamin erzählen mir, dass sie Fußballer werden wollen. Eines Tages würden sie in Europa spielen und für die Black Stars, die ghanaische Nationalmannschaft, auflaufen. Davon träumen sie, genauso wie jeder andere ghanaische Junge auch.

Alle wollen sie kleine Rastas sein: Unter der Kappe verbirgt George seine frisch gezwirbelten Dreadlocks.

Zwischen 17 und 19 Jahre sind die vier Jungs alt. Ursprünglich kommen sie aus Kumasi, aus der Volta-Region oder kleinen Dörfern im Umkreis von Accra. In der Hoffnung hier Arbeit und Abenteuer zu finden, hat es sie in die Hauptstadt verschlagen. Heute besitzen sie nicht viel mehr als das, was sie am Leib tragen. Einzig Michael trägt einen Rucksack auf dem Rücken. Darin befinden sich ein Deospray, ein Paar kurze Hosen, ein Handy und eine Badekappe. „Die trag ich immer, wenn wir am Strand bolzen“, sagt er und stülpt sie George über den Kopf. Als ich die Jungs frage, warum sie von zu Hause weggelaufen seien, werden sie wortkarg. Ihre Geschichten kann man nur aus wenigen Wortfetzen erahnen: Den Vater nie kennen gelernt, zu wenig Geld, um zur Schule zu gehen, Stress mit den Stiefeltern.

„Meistens machen sie’s umsonst“

Ein wenig versteckt hinter einer hohen Backsteinmauer liegt das Arts Centre. Betritt man das riesige Gelände, sticht einem zuerst die Markthalle ins Auge, in der die Rastas ihren Kunstkrempel verkaufen. Nachts schlafen sie hier. Zwischen den Holzstreben, die die einzelnen Räume von einander abtrennen, hängen Bettlaken und Leinentücher. Die Vier kennen hier jeden Winkel, überall bekannte Gesichter. Ich kaufe Whisky und Gin in Plastikbeuteln. Denn die Jungs wollen sich Mut antrinken, um mit den Mädchen zu schäkern. Es fällt schwer zu sagen, ob es Prostituierte sind oder nicht. George, der bei den Mädchen am besten ankommt, sagt: „Meistens machen sie’s umsonst, manchmal müssen wir aber auch bezahlen.“

Dann geht’s weiter in Richtung Strand, zielsicher steuern die Jungs über stockfinstere Pfade, bis wir endlich vor ein paar Hütten stehen bleiben. Von der benachbarten Müllkippe weht ein unsäglicher Gestank herüber. Funzelige Öllampen glimmen auf den Essensständen und aus versteckten Lautsprechern ertönt Reggae in voller Lautstärke. Rechterhand liegt ein schäbiges Haus, durch die Fenster sieht man einen Fernseher flimmern.

Doch die Jungs haben keine Lust auf Kino. Vorsichtig kraxeln wir die steilen Stufen einer Treppe herunter, die durch eine schmale Häusergasse führen. Als wir das Ende erreicht haben, stehen wir plötzlich mitten auf dem Strand, vor uns das dunkel grollende Meer. In einer Ecke sitzen ein paar Rastas, Schweine und Hunde laufen herum und über allem liegt eine süßliche Graswolke. George und Godwin schaffen Plastikstühle heran, auf die wir uns erschöpft fallen lassen. Während Michael einen Joint baut, drehe ich mich um und sehe die Hütten, die so windschief an dem Abhang kleben wie ein Kartenhaus kurz vor dem Einsturz. Auf ihren Dächern wuchert ein Wald aus Antennen. Und direkt neben uns ragt ein Fahnenmast in den Himmel, an dem die Rastas eine zerfledderte ghanaische Flagge gehisst haben. Leise weht sie im Wind.

Ein Stück Pappe als Kopfkissen

Als wir zurück in die Oxford-Straße kehren sind die Straßen leer. Die meisten Buden haben geschlossen, nur noch einige wenige Huren und Taxifahrer sind unterwegs. Die Jungs sind müde, aber zu hungrig um sich schlafen zu legen. Die letzte Mahlzeit haben sie um zwei Uhr gegessen. Nachdem ich eine Runde Reis und eine letzte Gute-Nacht-Zigarette spendiert habe, zeigen sie mir, wo sie übernachten.

Ihr Schlafplatz liegt genau gegenüber vom Frankie’s, hinter einem unscheinbaren Wellblechzaun. Quietschend öffnet Benjamin die Pforte zu einem großen Platz, auf dem bestimmt 200 Menschen liegen – einige im Staub, andere auf dem nackten Beton. „Der Besitzer ist verstorben, seitdem steht das Grundstück leer“, erklärt Benjamin und schnappt sich ein Stück Pappe, sein Kopfkissen. Zwar schwirren unzählige Moskitos durch die Luft, doch dafür ist ihre Nachtstätte sicher. „Die Polizei schaut hier nur selten vorbei“, sagt George.

Doch die Nacht ist kurz. Um sechs Uhr, wenn die Sonne aufgeht, wachen die Jungs auf. Zwei Stunden müssen sie überbrücken, ehe das Zentrum für Straßenkinder öffnet, in dem sie sich tagsüber aufhalten. Dort können sie Frühstück und Mittag essen, duschen, Wäsche waschen. Und warten bis es wieder dunkel wird.

Written by bjoernstephan

Februar 13, 2011 at 10:28 pm

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